Alternativmedizin ist in Deutschland ein heißes Thema. Fast jede Person hat selbst Erfahrungen mit alternativen Therapieansätzen oder mindestens schon einmal selbst homöopathische Mittel eingenommen. Während meiner Forschung zur Komplementärmedizin in Deutschland bin ich häufig auf polarisierende Meinungen gestoßen: Befürworter*innen und Gegner*innen debattieren heftig um die Wirksamkeit der Ansätze. Während erstere auf Ganzheitlichkeit und Spiritualität setzen, nutzt die Gegenpartei oft negative Verweise auf Esoterik oder sogar Religion. Gleichzeitig weisen einige Heilpraktiker*innen jegliche Verbindungen zu Religion aber vehement zurück. Doch wie lässt sich Alternativmedizin in Deutschland religionswissenschaftlich einordnen? Wo werden Verbindungen zu Religion oder Nichtreligion hergestellt?
In meiner Masterarbeit ‚CAM as a Social Field: Complementary and Alternative Medicine between Medicine and Nonreligion‘ habe ich untersucht, wie sich komplementäre Alternativmedizin (CAM) als ein soziales Feld konstituieren lässt und wo Heilpraktiker*innen ihre Ansätze zwischen Medizin, Religion und Nichtreligion verorten. Um CAMs Position im gesellschaftlichen Raum zu verstehen, habe ich Bourdieus Feldtheorie und Johannes Quacks relationalen Ansatz zu Nichtreligion genutzt. Als empirische Datengrundlage habe ich in acht offenen Interviews mit Heilpraktiker*innen in Niedersachsen gesprochen.
Heilpraktiker*innen und CAM
Es ist schwierig, die Arbeit von Heilpraktiker*innen in wenigen Sätzen genau zusammenzufassen, da die alternativmedizinischen Ansätze äußerst vielfältig sein können. Diese sind nämlich nicht direkt durch gesetzliche Vorgaben, sondern erst einmal grundsätzlich durch einschränkende Arztvorbehalte geregelt (Dilger und Schnepf, 2020, S. 9). Um den Berufstitel „Heilpraktiker*in“ tragen zu dürfen, müssen Anwärter*innen eine staatliche Prüfung bestehen, auf die sich die meisten in einer Heilpraktikerschule vorbereiten. Diesen Weg sind auch alle meine Interviewpartner*innen gegangen: Sie haben mehrere Jahre lang eine solche Schule besucht und anschließend die Prüfung absolviert.
Religion oder Nichtreligion?
In den Interviews zeichnet sich ein kompliziertes Verhältnis der Heilpraktiker*innen zu Religion ab. Einige distanzieren ihre Berufspraxis explizit von Religion, da der Stempel „religiös“ von Kritiker*innen häufig genutzt wird, um die Ansätze abzuwerten. So betont eine Heilpraktikerin: „Die Prinzipien [von Heilpraktiker*innen] haben ja nichts zu tun mit Religion oder irgendeiner Weltanschauung.“ Interessant ist, dass diese Abgrenzung in einem engen Zusammenhang mit der negativen Stigmatisierung ihrer Berufsgruppe steht, da Gegner der alternativmedizinischen Ansätze häufig Verbindungen zu „Querdenkern, Esoterik und der politischen Rechten“ ziehen. Klassen et al. (2022) betonen, dass Religion häufig auch von der Biomedizin als Label genutzt wird, um alternativmedizinische Ansätze zu delegitimieren (S. 2). Dadurch wird deutlich, wie mächtig das Label ‚religiös‘ in diskursiven Prozessen sein kann.
Auch wenn einige Heilpraktiker*innen ihre Praxis explizit von Religion distanzieren, so werden Religion und religiöse Ideen von den Gesprächspartner*innen in den Interviews häufig benannt. Zudem machen sie sich beispielsweise eine normative Unterscheidung von Religion und Spiritualität zunutze (siehe auch Lüddeckens, 2018, S. 171). Indem die Praktiken ein neues Kennzeichen wie ‚spirituell‘ bekommen, können folglich Annahmen über Religion umgangen werden, sodass sie anders im medizinischen Feld platziert werden, als offen deklarierte religiöse Heilungspraktiken (Stein, 2022, S. 236).
Die alternativmedizinischen Praktiken werden also häufig von außen mit Religion in Verbindung gebracht, um sie infolgedessen zu delegitimieren. Gleichzeitig grenzen sich einige Heilpraktiker*innen von Religion ab, um dieser Zuschreibung zu entweichen. Dadurch ergeben sich spannende Einblicke in das Verständnis von Religion im medizinischen Kontext: Religion wird als inkompatibel mit Medizin verstanden.
Hier wird allerdings ein anderer wichtiger Faktor angesprochen: Die direkte Ablehnung jeglicher Verbindungen zu Religion(en) offenbart eine Beziehung zu Religion, die es genauer zu untersuchen gilt; Religion und ‚Nichtreligion‘ sollte nicht als eine simple Dichotomie verstanden werden, sondern als komplexes, durch relationale Verbindungen geprägtes Konstrukt (Quack, 2014, S. 445). Nichtreligiöse Phänomene stehen also immer in einer Beziehung zu Religion (Quack, 2014, S. 446). Da einige Heilpraktiker*innen in den Gesprächen wiederholend auf eine Abgrenzung von Religion beharren, agieren sie in einem Spannungsfeld zwischen Medizin, Nichtreligion und Religion.
Fazit
Alternativmedizinische Praktiken werden häufig auch in der Religionswissenschaft mit der New Age Bewegung in Verbindung gebracht und im Zuge dessen im religiösen Feld verortet. Durch die Ergebnisse meiner Masterarbeit konnte ich zeigen, dass diese Verortung für die Praxis von Heilpraktiker*innen in Deutschland nicht präzise genug ist. Um eine genaue Position der Praktiken zu bestimmen, muss die Überschneidung von dem medizinischen und religiösen Feld, sowie deren Einbettung in das nichtreligiöse Umfeld in Betracht gezogen werden.
Julia Oppermann, M.A.
Literatur:
Bourdieu, P. (2000). Das religiöse Feld: Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens. UVK Universitätsverlag.
Dilger, H., & Schnepf, M. (2020). Alternative Gesundheitsvorstellungen und ‑praktiken in der deutschen Therapielandschaft: Bericht zur Literaturrecherche ‘Vielfalt im Gesundheitswesen’ im Auftrag der Robert Bosch Stiftung GmbH. Freie Universität Berlin.
Klassen, P. E., Hetmanczyk, P., Lüddeckens, D., & Stein, J. B. (2022). Introduction: Critical approaches to the entanglement of religion, medicine, and healing. In D. Lüddeckens, P. Hetmanczyk, P. E. Klassen, & J. B. Stein (Eds.), The Routledge Handbook of Religion, Medicine, and Health (pp. 1–10). Routledge Handbooks.
Lüddeckens, D. (2018). Complementary and Alternative Medicine (CAM) as a Toolkit for Secular Health Care: The De-differentiation of Religion and Medicine. In D. Lüddeckens & M. Schrimpf (Eds.), Medicine — Religion — Spirituality: Global Perspectives on Traditional, Complementary, and Alternative Healing (pp. 167–200). Transcript.
Quack, J. (2014). Outline of a Relational Approach to ‘Nonreligion’. Method and Theory in the Study of Religion, 26, 439–469. https://doi.org/10.1163/15700682–12341327
Stein, J. B. (2022). Energy Healing: Reiki, Therapeutic Touch, and Healing Touch in the United States and beyond. In D. Lüddeckens, P. Hetmanczyk, P. E. Klassen, & J. B. Stein (Eds.), The Routledge Handbook of Religion, Medicine, and Health (pp. 229– 243). Routledge Handbooks.